1. Akt - Merkwürdige Dinge

Andrel musterte die Schwester, die auf eine Antwort zu warten schien. Ein Paket zu überbringen, war ganz und gar nicht das, was er sich gewünscht hatte. Aber er hatte um eine Aufgabe gebeten. Und keinesfalls wollte er die Oberen verstimmen. Also unterdrückte er ein Seufzen und nickte. "Vollkommen, Schwester. Welches ist der schnellste Weg nach Nu?"

Amalie strich ihre grüne Robe glatt und überlegte. "Es ist gut, dass du die Notwendigkeit einsiehst, Bruder. Am Schnellsten geht es wohl mit dem Luftschiff. Das fliegt dann zum Ju'Manal. Von dort ist es mit einem Pferd nicht mehr weit zur Stadt Nu. Am besten gehst du zum Lufthafen und schaust, ob heute noch ein Schiff ablegt. Nimm dir etwas zu essen mit." Die Schwester schiebt ihm noch einen Beutel mit 10 großen und 20 kleinen Falken über den Tisch. "Das sollte für eine Überfahrt und Spesen genügen."

Ein Luftschiff! Während seiner Jahre in Thanmar'Aeternis hatte er oft im Freien gestanden, diesen stolzen Gefährten nachgesehen und sich gefragt, wie es wohl sein könne, darauf Passagier zu sein. Und nun sollte sich dieser Traum erfüllen ... Freudig schlug sein Herz schneller. Die Aussicht auf den Flug ließ ihn die Stupidität des Auftrags vergessen.
Er befestigte den Beutel mit den Münzen an seinem Gürtel, das Paket schob er in seinen ledernen Rucksack. Dann deutete er eine Verbeugung an. "Ich breche sofort auf. Gehab dich wohl, Schwester!"

Schwester Amalie erwiderte die Verbeugung. "Möge die Göttin deine Schritte auf der Reise lenken und beschützen."

Andrel verließ daraufhin den Tempel von Dorana, betrat den Tempelvorplatz, um den die Tempel der drei Götter standen. Sie lenkte ihre Schritte über das große, als Mosaik in die Platzpflasterung eingelassene Rad der Ewigkeit in Richtung Süden. Die große Allee führte durch den Garten der Götter  zur großen Brücke, die Thanmar'Aeternis mit Thanmar'Mercantis verband. Die Händler, die rechts und links der Allee ihre Amulette und Wunderdinge anpriesen, übertrafen sich im Anpreisen ihrer Waren. "Hey Bruder, sicherlich brauchst auch du den Segen der Götter. Ich habe die besten Amulette. Wenn du zwei kaufst, bekommst du ein drittes dazu. Damit kannst du deine ganze Familie schützen."
"Hör nicht auf diesen Schwindler", sprach sie eine Frau an, "ich habe die besten Schutztränke. Damit halten die ollen Amulette nicht mit."
Ein köstlicher Geruch von gebratenem Fleisch stieg dem Heiler in die Nase. Die feil gebotenen Spieße sahenwirklich sehr lecker aus.

Andrel schmunzelte. Vielleicht sollte ich auch solchen Firlefanz verkaufen, wenn ich das Paket überbracht habe, überlegte er. Ein paar Zweige, einige Rindenstückchen, eine Handvoll Moos und etwas Garn, und schon ist ein Windspiel gebastelt, das die Kraft der Götter einfängt. Besonders wirksam bei Sturm.
Doch der köstliche Fleischgeruch zog ihn verführerisch in die Gegenwart zurück.
An dem Stand waren kaum Kunden. Andrel musste nicht lange warten, bis er an der Reihe war. Er griff an seinen Gürtel, um sich zu vergewissern, dass die Geldbörse noch an ihrem Platz war, dann nickte er dem Verkäufer zu. "Sei gegrüßt! Wie viel Spieße bekomme ich für einen kleinen Falken?"

Schnell überlegte der Händler, ob er nicht ein Geschäft machen sollte, doch dann besann er sich eines besseren. Andrel trug eindeutig die Kleidung eines Göttersprechers und mit den Göttern wollte er es sich nicht verscherzen. "Für einen kleine Falken bekommst du 10 Spieße und einen schenke ich dir."

Ohne zu zögern holte Andrel einen kleinen Falken hervor und drückte ihn in die Hand des Verkäufers. Der steckte das Geld ein und überreichte ihm elf Spieße wie einen Strauß Blumen.
Erst jetzt bemerkte Andrel, wie hungrig er war. Er trat nur einen Schritt beiseite, um die anderen Kunden nicht zu stören, und zog mit den Zähnen das erste Fleischstück vom Spieß.
Selten hatte er besseres Fleisch gegessen! Es schmeckte so gut, wie der Duft es versprach; der Verkäufer musste für die Marinade viele Gewürze verwendet haben.
"Deine Spieße sind wirklich ausgezeichnet!", lobte er. "Sag, von welchen Tieren stammt das Fleisch?"

"Du verstehst dein Handwerk!" Er nickte dem Verkäufer noch einmal grüßend zu und wandte sich kauend zum Gehen. Suchend sah er sich um, während er zwischen den Ständen südwärts schlenderte.
Als Proviant für die Fahrt eigneten sich am besten Brot, Pökelfleisch und Trockenfrüchte. Er hielt inne, biss nachdenklich das erste Stück vom zweiten Spieß. Ob es an Bord eines Luftschiffes wohl Wasser gab? Oder musste er sich auch darum kümmern? Und wie lange würde er überhaupt unterwegs sein?
Einen Schritt nach dem anderen, sagte er sich und lief ohne Eile weiter. Bei einer drallen Bäckerin mit unverschämtem Dekolleteé kaufte er einen Laib Brot, direkt daneben bekam er getrocknete Apfelringe und Beeren. Die Obsthändlerin war griesgrämig und verlangte einen horrenden Preis. Zähneknirschend bezahlte Andrel den Betrag und beschloss, auf gepökeltes Fleisch zu verzichten. Schließlich hatte er noch neun Spieße, an denen er sich heute gütlich tun konnte.

Andrel erreichte die große weiße Marmorbrücke. Der Anblick war schon beeindruckend, diese gewaltige Konstruktion, die die beiden schwebenden Inseln verband. Frohen Mutes schritt er aus und merkte schnell, wie der Wind an ihn zerrte und zog. Wenn er hier herunterfiel, schlug er nach 1000 Metern auf der Oberfläche des Sternensees auf.

Hart wie Stein, ging es ihm durch den Kopf, als er dichter an den Abgrung trat und auf das glitzernde Wasser hinuntersah. Obwohl er keine Angst vor Höhen hatte, war es beruhigend, eine Hand auf das breite Geländer zu legen.
Seine Robe bauschte sich im wilden Wind wie ein Segel.
Es war höchste Zeit, zum Lufthafen zu gehen. Sein gemütlicher Spaziergang hatte lange genug gedauert. Er straffte seine Gestalt und lief weiter.

Bald erreichte er Danmar'Mercantis, die Insel des Handels. Hier hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, soweit man das bei einer schwebenden Insel überhaupt sagen konnte. Das Treiben war hier groß, geschäftig liefen die Händler, deren Helfer und auch Käufer hin und her. Das Warenangebot der Läden und Stände an den Marktständen war gewaltig und erschlug den Käufer förmlich. jedoch konnte er hier auch die Kehrseite des Amuletts entdecken. Bettelnde Kinder und Krüppel sah man in den Straßen und Gassen. Sobald jedoch die Stadtwache auf ihrer Patrouille vorbeikam, verscheuchten sie die armen Tröpfe. Bei genauerem Umsehen konnte Andrel auch den einen oder anderen ungeschickten Dieb erkennen, die Geschickten jedoch blieben seinem Auge verborgen.

Andrel hielt sich ein abseits des Trubels. Er wollte sich nicht verleiten lassen, noch mehr Geld auszugeben.
Die Seitenstraße, die nur einen Steinwurf vom bunten Treiben entfernt war, bot ein ganz anderes Bild. Hier lagerten die Händler ihre Abfälle. Haufen aus faulem Obst, verdorbenem Fleisch, zerbrochenen Fläschchen und verdorrten Blumen säumten den Straßenrand. Trotz des übelkeiterregenden Gestanks wühlten Bettler darin herum und suchten nach Essbarem. Bei dem Anblick fuhr Andrel ein Stich ins Herz.
Vor einem Abfallhaufen hockten vier Kinder, unterernährt und schmutzig. Erst, als er sie ansprach, sahen sie auf, ihre Gesichter waren ängstlich.
"Ich kann euch nicht helfen. Doch für heute kann ich euren Hunger ein wenig mildern", sagte er und reichte jedem Kind zwei Spieße. Den letzten reichte er einer dürren Frau, die ihn argwöhnisch beobachtete. "Möge Dorana ihre schützende Hand über euch halten!" Damit setzte er seinen Weg fort.
Wie viel besser war doch das Leben im Alten Wald! Dort musste niemand betteln, denn der Wald barg alles, was man zum Leben brauchte: Beeren und Wurzeln, Getier, Kräuter, Pilze ... Er seufzte.
Es war nicht mehr weit bis zum Lufthafen. Mit etwas Glück konnte er die Stadt noch heute verlassen.

Gierig stürzen sich die Kinder auf die angebotenen Fleischspieße. Unbehelligt erreicht der Ellyll den Lufthafen. Auch hier legte sich das rege Treiben nicht. 4 Schiffe lagen an den Kais. Emsig wurden die Schiffe be- und entladen.

Wer würde ihm wohl Auskunft geben können? Ein wenig ratlos blickte sich Andrel um.

Um Andrel herum waren die Arbeiter geschäftig. Sie liefen zu den Schiffen zu den Lagerhallen und wieder zurück.

Ein alternder Arbeiter lief schleppend an ihm vorbei. Trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit pfiff er eine leise Melodie.
Andrel hielt ihn mit einer Geste auf. Er grüßte mit einer leichten Verbeugung und fragte dann: "Sag, guter Mann, legt eines der Schiffe heute noch mit Kurs auf Nu'Ri ab?"

Der alte Mann sah Andrel fragend an. "Woher soll ich denn das wissen? Ich bin nur zu Beladen der Schiffe hier", fuhr er den Ellyll etwas unwirsch an. "Frag doch den Hafenmeister. Der sollte das wissen." Der Mann machte eine Handbewegung und zeigte dann auf ein Gebäude am Rande des Hafens. "Und jetzt muss ich weiter arbeiten." Mit diesen Worten verschwand er mit seiner Ladung an Bord des nächsten Schiffes.

Schulterzuckend wandte sich Andrel ab, ging zu dem unscheinbaren Haus hinüber und klopfte an die Tür.

"Komm rein!", erschallte der Ruf aus dem Inneren. Andrel öffnete die Tür und trat in die Amtsstube ein. Ein Mensch im mittleren Alter, dem jedoch ein Auge fehlte, saß hinter an einem Tisch. "Was ist los? Was kann ich tun?"

Mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen betrat Andrel das Haus. Der Raum dahinter war groß, das zentrale Element war ein aufgeräumter Tisch. Auf einer Seite stapelten sich Unterlagen, auf der anderen standen verschiedene mechanische Gerätschaften, deren Zweck sich dem Heiler nicht erschloss.
Hinter dem Tisch saß ein Einäugiger. Er beugte sich vor und stützte sich mit gefalteten Händen auf die Tischplatte.
"Ich grüße dich", begann Andrel mit einer leichten Verbeugung. "Bist du der Hafenmeister? Ich brauche eine Überfahrt nach Nu. Wann legt das nächste Schiff mit diesem Ziel ab?"

Der Mann nahm eines der Bücher hervor und begann, darin zu wälzen. "Du hast Glück, Bruder", sagte er, als er aufblickte, "heute am späten Nachmittag legt ein Schiff nach Nu'Ri ab. Es ist die Windschreiter." Er warf einen Blick nach draußen und zeigte da auf eines der Luftschiffe. Es war ein kleineres, aber sehr schnittiges Schiff. "Dort draußen liegt es."

"Windschreiter", wiederholte Andrel. Ein würdevoller Name, fand er. "Wen bezahle ich für die Überfahrt? Dich? Den Kapitän?"

Andrel nickte. "Kapitän Jerana. Windschreiter." Er wandte sich zum Gehen. "Dann werde ich mich mal vorstellen."