2. Akt - Im Jadereich

Ava hatte sich zum Ausruhen an ihr Maultier gelehnt. Nach einer Weile bewegte es sich auf der Suche nach neuem Gras. Ava konnte sich gerade noch aufrichten. Sie trenste ihr Maultier wieder auf. Als sie zu den anderen hinüber sah, bemerkte sie das Raya aufgesprungen war. "Was ist da los?" , fragte sie sich. Sie lief zu Raya und fragte: "Ist etwas passiert?"

"Shhh, hör doch!" Raya beugte sich etwas nach vorne, als ob sie so das Geräusch besser wahrnehmen könnte. Wie automatisch griff sie zu ihrem Bogen. Sie erschrak. Warum hattte sie ihn nur abgenommen?
Wieder hörte sie ein Rascheln. "Da ist es wieder, hört ihr?"

Ihr ließet euch euern Proviant schmecken und Lylla hatte die Brote perfekt zubereitet, dazu war der Tee äußerst köstlich.
Raya und Ava näherten sich einem Gebüsch und hörten nun neben dem Rascheln ein kehliges Knurren. Was steckte da wohl in dem Gebüsch?

Auch Lylla wollte nach ihrem Stab greifen, besann sich jedoch. Die Maultiere streckten bereits ihre flauschigen Ohren in die Höhe und zeigten das Weiß ihrer Augen. Lylla raffte sich auf und begab sich zu den Tieren, während der wunderbare Imbiss in ihrem Bauch flüssig zu werden schien. Mit ruhiger Stimme ein Lied summend, trenste sie auf und hielt die Zügel beisammen. Ein direkter Blick zu Valeska sollte ihr sagen, dass sie Hilfe brauchte.

Die beiden Frauen hatten sich in ihrer Neugier empfindlich nah an das Gebüsch gewagt, aus dem die Laute zu hören waren. Andrel spannte sich, bereit, die beiden im Notfall weg- oder zu Boden zu reißen.
Die Fingerstümpfe seiner linken Hand begannen zu pochen.

Valeska traf der hilfesuchende Blick von Lylla ganz unvorbereitet. Warum regten sich die Tiere denn so auf? Sie zerrte das widerstrebende Maultier hinter sich her, dass die schmackhafte Weide nicht verlassen wollte und kam der Elyll zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie es, die ängstlich schnaubenden Viecher unter Kontrolle zu behalten. "Was ist denn los?", wisperte Valeska angespannt.

Ava schlich hinter Raya zum Gebüsch. Als sie Raya hinter sich greifen sah, als wäre dort eine Waffe, griff auch sie nach ihrem Bogen. Noch während sie das tat, wurde ihr klar wie unnütz ein Bogen auf solch kurze Entfernung wäre. Also lauschte sie bloß angespannt und schlich weiter.

Raya hörte ein Knurren. Sie legte ihre Hand auf das Jagdmesser, das an ihrem Gürtel befestigt war und nickte Ava zu. Was auch immer hinter dem Gebüsch war, sie konnte das Messer nur einmal werfen. Wie automatisch ging die andere Hand an die andere Seite ihres Gürtels.

Das Knirren wurde leiser.

"Du brauchst dein Messer nicht", drang eine sanfte, beruhigende Stimme in Rayas Kopf. "Hier ist nichts, wovor du dich fürchten müsstest."

DNn raschelte es wieder im Gestrüpp.

Raya entspannte ihre Glieder.
"Hier ist nichts, Ava. Alles in Ordnung."

Raya drehte sich um und ging zu Andrel hinüber. Leise sagte sie: "Jetzt ist diese Stimme schon tagsüber in meinem Kopf. Oder hast du das auch gehört?" Raya blickte sich um. Sie hoffte, dass das niemand anderes mitbekommen hatte. Als wäre nichts gewesen, ging sie wieder an ihren Platz und aß ihr Schinkenbrot auf.

Andrel schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Welche Stimme? Es drängte ihn, Raya danach zu fragen, doch offenbar wollte sie nicht, dass die anderen etwas davon mitbekamen. Sprach der Greis aus dem Traum zu ihr?
Er sah ihr nach, als sie zurückging und ihren Proviant verzehrte. Das Pochen in seiner Linken ließ nicht nach.

Ein leises Schnurren erklang, kaum hörbar, aus dem Busch un ein paar muntere Augen folgten Raya zu ihrem Platz.

Kaebjorg hatte sich nach dem Essen für eine Weile in das Gebüsch auf der anderen Seite der Lichtung zurückgezogen und kam gerade wieder heraus.
"Was war'n los?" Er sah sich fragend in der Runde um.

Verwundert sah Ava Raya hinterher. Woher wollte sie wissen, das keine Gefahr drohte? Sie bemerkte das Raya Andrel etwas zuflüsterte, aber hören konnte sie es nicht. Sie überlegte: "Wenn Raya meinte, es drohe keine Gefahr... Aber was hatte sie Andrel zugeflüstert? Solange Raya es nicht erzählt, würde sie es wohl nicht erfahren. Fragen ist sicher keine gute Idee." Immer noch verwirrt ging sie zu ihrem Muli.

Ihr packtet eure Sachen nach der Rast und führtet euren Weg fort in Richtung Berge. Die Sonne schien herrlich und der Duft der ungebundenen Natur stieg euch in die Nase. Als ihr euren Rastplatz verlassen hattet, blickten dunkle Augen euch nach. Kurz danach folgte das Wesen euch auf leisen, leichtfüßigen Sohlen.
Die Sonne wanderte über den Himmel, und nach ereignisloser Reise senkte sich langsam die Dämmerung über das Land.

"Beim ranzigen Segel, lässte das jetz endlich? Wir wolln doch nich der König vom Kielwasser* sein!"
Kaebjorgs Maultier ging ihm gehörig auf die Nerven. Scheinbar hatte es einen sechsten Sinn für die Abendessenszeit, denn exakt seit Kaebjorgs Magen zu knurren begonnen hatte, lief es nur noch unter Protest mit ihm mit und riss ständig den Kopf herunter, um Grünzeug oder einen der überall herumliegenden Apfel zu fressen. Valeska hatte erklärt, das Maultier sei ein kastrierter Hengst. Kein Wunder, dass der nur ans Fressen dachte!

Andererseits verstand Kaebjorg das Tier ganz gut; es war ja wirklich Abendessenszeit. Umso schlimmer, dass er weitermarschieren musste, während das Vieh sich ständig selbst bediente. "Kannste nich aufs Essen warten wie alle andern?"
Das Maultier mampfte gerade seelenruhig einen Apfel, und weigerte sich, dabei auch nur einen Schritt zu tun. Sie blieben ein Stück hinter der Gruppe zurück. Sowas hätte seine Irmgard nie gemacht! Die beeilte sich wenigstens beim Fressen!
"Bah, muss das sein?" Jetzt sabberte ihm das Vieh auch noch Apfelfetzen auf die Hand! Kaebjorg konnte keine Äpfel mehr sehen, davon hatte er schon genug im Bauch. Er brauchte was Richtiges! Und nicht zuletzt einen guten Schluck von dem Narimbrand, den das Maultier auf dem Rücken trug.

"Kommste jetz?!"
Vielleicht hatten die anderen Recht gehabt, und er hätte dieses komische Mundstück dran lassen sollen. Aber sowas würde er auch nicht gern den ganzen Tag zwischen den Zähnen haben. Pah! Das Vieh könnte ruhig etwas dankbarer sein!
Da, endlich tat es ein paar Schritte. Wie lange wollten sie eigentlich noch gehen? Verfolger hin oder her, aber so langsam wurde es dunkel.
"He, da vorn!", rief er. "Wolln wir nich langsam die Anker werfen? Ich hab Hunger!"


* Seemannsausdruck, für jemanden, der immer der letzte ist

Lylla warf einen Blick nach hinten und fühlte sofort ihre Nackenmuskeln zusammenballen wie eine Faust. "Ah, Kaebjorg hat recht", rief sie laut. "Ich habe gar nicht gemerkt, wie dunkel es schon ist. Wir haben die Zelte noch nie aufgebaut und das würde ich gerne tun, solange man was sieht!" Sie kleidete ihre Ansprüche in ein sattes Lachen.
Die Mulis blieben wie auf Kommando stehen, offenbar durch kleine Unsicherheiten ihrer Lenker im Vorteil. Die Mulischnauze neben Lyllas Ellenbogen neigte sich suchend nach unten und Quendis Gesicht leuchtete ihr in der Dämmerung hell entgegen. Die Gläser ihrer Brille, die sie wie immer auf ihre Stirn geschoben hatte, spiegelten das Feuer des Sonnenuntergangs. In den Augen der quirligen Erfinderin blitzte es hell. "Diese Zelte interessieren mich", trillerte ihre helle Stimme. "Wie passt so viel Tuch und die Stangen in so eine kleine Packung?"

Die Päckchen waren eng gepackt und hatten ein rotes Band, das von ihnen herabhing. Aber Quendi hatte Recht. Wie passte da ein Zelt mit samt Gestänge rein?

Als alle anderen Mulis stehen blieben und die Köpfe senkten, um zu fressen, tat es ihnen Traumtänzer sofort nach. Der Wallach hatte genug vom Marschieren und Valeska, gequält von ihren müden Muskeln, konnte es ihm nachfühlen. Noch nie war sie so lange an einem Stück gelaufen. Es reiste sich deutlich angenehmer im Wagen. Das konnte sie jetzt schon sagen und wenn sie die Höhe des Gebirges in der Ferne richtig schätzte, dann würde es noch schlimmer werden - viel schlimmer. Heute Abend würde sie sich bestimmt nicht mehr dazu aufraffen können, ihre akrobatischen Übungen zu machen. Am Ende der Reise konnte sie vermutlich nicht einmal mehr einen Handstand. Mit einem Seufzer nahm sie eines der Pakete, das angeblich ein Zelt enthalten sollte, von dem Packsattel.
Keiner der anderen hatte noch ein Wort über die seltsame Begebenheit mit dem knurrenden Busch verloren. Als Raya Entwarnung gegeben hatte - weiß der Himmel, woher sie ihre Informationen bezog - hatten sich alle schleunigst wieder auf den Weg gemacht. Diese Reise fühlte sich beinahe wie eine Flucht an, nur dass sie nicht genau wusste vor wem und wohin. Raya musste das Geraschel im Busch mit Magie untersucht haben. Eine andere Erklärung hatte Valseka nicht. Und das bereitete ihr Unbehagen. Genauso wie diese komischen Pakete. Die Zelte mussten auch irgendwie magisch behandelt worden sein, sonst hätten sie einen deutlich größeren Umfang haben müssen. Mit Magie kannte sie sich nicht aus und deshalb war sie ihr unheimlich. Zu dumm, dass sie sich nicht früher ein paar Gedanken darüber gemacht hatten. Schließlich hatte Esondril gefragt, ob sie noch Fragen dazu hätten.
"Wie macht man das auf?", wandte sie sich hilfesuchend an Andrel. "Kennst du dich mit Magie aus, Andrej?"

Was wohl passierte, wenn man an dem Band zog? Andrel war versucht, es auszuprobieren. Er wollte gerade nach dem Band greifen, als Valeska ihn ansprach.
"Nein", antwortete er. "Aber Raya ist Magierin. Sie findet es bestimmt schnell heraus."

Ein wenig hinter den anderen bremste Ava ihr Muli. Sie hörte die anderen über die Zelte reden. Sie schaute genauer hin. Die waren wirklich klein. Dazu konnte sie nichts sagen, sie schlief sowieso draußen. Sie ließ ihrem Muli die Zügel locker und ging zu den anderen rüber.

"Solln wir Feuer machen?", fragte Kaebjorg in die Runde. Solange die anderen an den Zelten herumfummelten, die sie sowieso noch nicht brauchten, würde er sich lieber nützlich machen. Feuer, Essen und Narimbrand waren jetzt genau das Richtige! Ein bisschen plaudern bis in die Nacht hinein, und dann schlafen bis ... 
"He!" Verärgert sah er auf seine besabberte Hand. Was hatte das Maultier jetzt schon wieder für ein Problem? Wieso fraß es nicht? Verlangte es etwa, dass ihm vorher das Gepäck abgenommen wurde? Na, wenn es sein musste ...

Raya nahm eines der Päckchen in die Hand. Weil sie keine böse Überraschung haben wollte, legte sie die andere Hand über das Päckchen und sagte leise „Licht“.

Ein rötlicher Schimmer zeigte ihr Linien und Falten

„Okay, dann wollen wir mal sehen. Es scheint ganz leicht zu sein. Macht mal ein bisschen Platz!“

Sie legte das Päckchen in die Mitte der frei gemachten Fläche und berührte das rote Bändchen nur noch mit dem Zeigefinger. Dann schritt sie ein paar Ellen nach hinten, wobei sich in der Luft zwischen ihrem Finger und dem Band ein rotes Lichtband bewegte.

„Nicht erschrecken Freunde.“

Sie zog ihren Finger peitschend zurück und sagte nur „Auf!“

Raxa zog an dem roten Band. Anfangs schien nichts zu passieren, doch dann schien das Bündel zu wachsen und sich zu entfalten. Stoffbahnen entfalteten sich und formten sich neu, bis sich ein Zelt geformt hatte. Es war hoch genug, dass Quendi und Kaebjorg darin stehen konnten, die anderen konnten bequem darin sitzen. Zwei Personen konnten nebrneinandet in den weichen Decken liegen, ohnesich zu sehr in die Quere zu kommen. Im Inneren herrschte eine angeneme Temperatur und eine Lampe spendete ein gedämpftes Licht. Zu guter Letzt versnkerte sich das Zelt im Boden.

Raya nahm die anderen Päckchen nach und nach und öffnete sie auf die gleiche Art. Am Ende standen die Zelte in einem fast geschlossenen Kreis. Nun benötigten sie nur noch ein bisschen Feuerholz, um es sich gemütlich zu machen.
"Kaebjorg, ich vermute du bist durstig. Sollen wir schnell Feuerholz zusammensuchen und was trinken?"
Das fühlte sich nicht wirklich nach einer Verfolgung an. Aber ihr war jetzt wirklich nicht nach Grübeln zumute. Sie wollte lieber nicht über die Stimme in ihrem Kopf nachdenken.
"Ich geh hier lang. Bis gleich."