von CheshireCat Mi Feb 21, 2018 11:40 am
Lylla betrat den Tempel etwa drei Meter vor dem großen Eingangstor, als ihre Füße nämlich den glatteren Steinboden fühlten. Ein trotziger Stolz erfüllte sie beim Anblick der hohen Holzflügel. Das Holz selbst war rau unter ihren Fingern. Sie nahm sich Zeit, die Tür hinter sich zu schließen, um die Stille nicht zu brechen und ihren Augen Zeit zum Anpassen zu geben. Es war dunkler als draußen, aber das Licht war weicher und angenehmer. Wie immer, wenn sie diese heilige Stätte betrat, musste sie zunächst die Fenster betrachten. Mit grünem Glas in allen Schattierungen war ein Wald gepuzzelt worden, die Welt, wie Dorana sie einst geschaffen hatte. In jedem Fenster sah Lylla ein Gesicht, versteckt, heimlich beobachtend, und sie spürte die Aufmerksamkeit der Göttin in sich. Auch die grünen Mosaike auf dem Boden bildeten vor ihren Augen Muster, die der urhebende Künstler damals nicht im Sinn gehabt hatte. Ein Auge, einen Baum, die Teekanne ihrer Mutter. Sie dachte an den weißen Dampf und die grüne Farbe des Tees, wenn sie an Dorana dachte, und ihr war, als hörte sie die Stimme ihrer Mutter tief in sich. "Dorana hat uns Ellyl gemacht, so wie wir Dinge machen. Bei uns reicht es nur für Tee, aber Dorana konnte Lebewesen erschaffen. Aus dem Nebel über dem Wasser und dem Grün der Pflanzen sind wir gemacht und bist auch du gemacht. Und aus noch vielem anderen mehr. Dorana hat uns aus allem gemacht, was es auf dieser Welt gibt, damit wir diese Welt beschützen."
Über die Mosaike von Farnen und Moosen führten Lylla ihre Schritte bis zum Altar. Die Göttin war allgegenwärtig, sie war in allem, praktisch war jedes Stückchen Pflanze ein Symbol für ihr Wirken, und daher hatte die Tempelverwaltung einen prächtigen Blütenbaum statt eines Götzenbildes aufgestellt. Lylla kniete sich ungeschickt hin und legte ihre Hände an den Findling, der als Altar diente. Der Stein war kühl und an manchen Stellen wies er Patina auf, die von tausenden Berührungen herrührte. Lylla versuchte, in eine Meditation zu finden, aber sie kniete genau auf einer Falte ihres Mantels und musste ein paar Verrenkungen machen, bis sie es aushalten konnte. Dabei betrachtete sie den Baum, der in dem ausgehölten Findling wurzelte. Endlich jedoch verfiel sie in eine stumme Zwiesprache.