von Susanne Gavenis Do Apr 26, 2018 9:49 am
Wobei, Niobea, mein Bekannter in einem solchen Fall wahrscheinlich irgendwelche unbewussten "Bauch-Lernprozesse" ins Feld führen (und sich damit zunehmend weiter von einer ernstzunehmenden Diskussion entfernen) würde. Bei Romanen, die zu Beginn der Karriere eines Autors schlecht waren und dann immer besser wurden, fällt mir spontan der Erstling von Uschi Zietsch ein, damals immerhin im Heyne-Verlag veröffentlicht (ich müsste mal nachschauen, wie der hieß), wo ich vor allem bei der Psychologie der Hauptfigur teilweise die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe. Am haarsträubendsten war es, als der Protagonist, ein Zauberschüler, an der hochangesehenen Magierakademie aufgenommen wird und eines Morgens feststellt, dass man ihn ohne sein Wissen betäubt und kastriert hat, um sicherzustellen, dass er auch seine gesamte Energie auf die Zauberei konzentriert. Er steht also aus seinem Bett auf, sieht die Bescherung, denkt sich: "Na ja, was soll's, passiert ist halt passiert", und danach ist ihm seine unfreiwillige Kastration keinen Gedanken mehr wert. Was hätte man aus einer solchen Situation nicht alles an Spannung und Konflikten herausholen können!
Um den Bogen wieder zu schlagen: Ich denke ebenso wie ihr, dass sich unbewusstes Bauchgefühl und bewusstes Reflektieren überhaupt nicht ausschließen (oder sogar ausschließen sollten). Ich denke auch, dass ein Schreibratgeber dieselbe Wirkung hat wie ein (gutes) Lehrbuch, nämlich zum einen ganz schlicht Wissen zu vermitteln, das man vorher nicht hatte und mit dem man im Folgenden aktiv arbeiten kann, und zum anderen - was ich auch wichtig finde - das unbewusste Bauchgefühl, das man vielleicht schon vor der Lektüre des Ratgebers hatte, ohne es in Worte fassen zu können, zu bestätigen.
Ich erinnere mich z.B. noch gut, als ich meinen ersten Schreibratgeber gelesen habe (das war so etwa vor 20 Jahren). Ohne dass ich damals irgendeine Ahnung von solchen Ratgebern oder Schreibtheorie hatte, hatte ich das Glück, den guten alten James Frey mit seinem Ratgeber-Klassiker "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt" in meinen Warenkorb zu packen. Bereits bei den ersten Abschnitten des ersten Kapitels, wo Frey über die Unterschiede zwischen dem homo sapiens und dem homo fictus - den fiktionalen Romanfiguren - referiert hat, hatte ich mein erstes Erleuchtungserlebnis und habe gedacht: "Mein Gott, der Mann hat recht!" Sofort hat es in meinem Köpfchen angefangen zu rattern, und mir ist klar geworden, dass ich tatsächlich alle Geschichten, die diese Unterschiede nicht genug berücksichtigt haben (wie sehr viele Geschichten von Schreibanfängern) schlecht fand, und dass die Qualität von Geschichten proportional ansteigt, wenn dieses Prinzip bei der Figuren- und Storykonzeption Anwendung findet.
Frey hat mir mit anderen Worten durch seine Gedanken eine (um es mal wissenschaftlich zu sagen) kognitive Struktur zur Verfügung gestellt (im Grunde ähnlich wie bei einer Mind Map), mit der ich sofort das, was ich bisher nur unterschwellig gefühlt hatte, in Worte fassen konnte. Und mithilfe dieser kognitiven Struktur konnte ich Beobachtungen und Eindrücke bei der Lektüre von Romanen oder beim Schauen von Filmen ganz anders einordnen und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Diesen Zusammenhang hatte ich vorher zwar irgendwie gespürt und mehr oder weniger in meinen eigenen Geschichten angewendet, aber ich hatte letztlich beim Schreiben und Konzipieren keine wirkliche Kontrolle darüber, eben weil es bis dahin nur ein "Bauchgefühl" war. Von daher bin ich der Meinung, dass sich bewusstes Wissen und unbewusstes Bauchgefühl im besten Fall ergänzen sollten.
Wenn so ein Bauchgefühl in Bezug auf bestimmte handwerkliche Prinzipien schon da ist, bevor man einen Schreibratgeber liest, ist es, denke ich, einfacher, als wenn ein angehender Autor den umgekehrten Weg gehen muss, wenn also sein unbewusstes Gespür für Geschichten ziemlich stark von dem abweicht, was schlicht und einfach gut und richtig ist (so jemanden kenne ich auch). Wenn ich z.B. erkläre, warum ich bestimmte Autorenentscheidungen in bestimmten Geschichten schlecht und kontraproduktiv finde, kommt fast immer von meiner Bekannten die Antwort: "Warum denn das? Das ist doch gerade das Tolle an der Geschichte! Ich würde es genauso machen!" Sie hat unheimliche Probleme damit, dieses Bauchgefühl, das ihr spontan oft zu schlechten konzeptionellen Entscheidungen bei ihren Geschichten rät, mit Hilfe von gelernten Prinzipien aus Schreibratgebern zu korrigieren. Ich denke, auch das ist am Ende eine Frage von Geduld und Hartnäckigkeit und des ständigen "learning by doing", weil es darum geht, das intuitve Bauchgefühl sozusagen mit bewusst reflektierten Überlegungen ein Stück weit zu überschreiben. Andere angehende Autoren, die von vornherein ein intuitiveres unbewusstes Gespür für die Wirkung von Geschichten und Figuren besitzen, haben es in dem Fall leichter, das gelernte Wissen aus Schreibratgebern in ihrem Gehirn zu vernetzen und spontan(er) anzuwenden.