Stimmt, bei den ??? bin ich völlig mit dir einer Meinung (was mich aber als Kind nicht davon abgehalten hat, die Bücher zu lieben). Ansonsten gebe ich dir recht, dass es natürlich in der Tat eine lahme Ausrede wäre, als Autor zu sagen: "Was wollt ihr eigentlich, Leser? Meine Figur handelt nicht unrealistisch. Ihr Charakter ist eben so."
Solcherart argumentiert, hätte sich ein Autor natürlich einen Freibrief für unglaubwürdige Figurendarstellung ausgestellt, der ihn gegen jede Kritik immun machen würde. Ich denke aber, dass ein solcher Vorwurf bei Timmy zu weit gehen würde. Nicht jeder Mensch (und auch nicht jedes Kind) reagiert bei einem Leichenfund (oder auch in vielen anderen Situationen) gleich, und zu sagen: Timmy hätte AUF JEDEN FALL emotional heftig und voller Angst reagieren müssen, weil Menschen in so einem Moment (oder danach) sich eben so verhalten, halte ich für verfehlt.
Die Darstellung in der fraglichen Szene ist in meinen Augen auch nicht dasselbe, als würde Timmy cool und rational wie ein hard boiled-detective aus einem film noir der 1940er Jahre auf den Fund reagieren. In der Szene mit seinem Vater ist er vor allem anderen okkupiert von der Erkenntnis, dass er herausgefunden hat, wer für die Morde verantwortlich ist, und von seinem brennenden Wunsch, bei seinem Vater damit Gehör zu finden. Diese Fokussierung des Autors in dieser speziellen Szene und dieses Thema der Szene schließen m.E. notwendig aus, dass Timmy zugleich intensiv mit seinen Gefühlen, seiner Angst oder Panik ringt (wenn er sie denn hätte), weil sich ein Autor ja immer entscheiden muss, auf was er bei einer Szene den Schwerpunkt legt.
Dieses Schwerpunktlegen heißt aber auf keinen Fall, dass sich eine Figur psychologisch unglaubwürdig verhalten darf, das ist völlig klar. Wenn man ein Mädel in einer Szene aufs Übelste foltern lässt, und in der nächsten Szene - nachdem es befreit worden ist - denkt es schon wieder an nichts anderes, als Party zu machen und sich irgendeinen geilen Typen aufzureißen, ohne auf die Folter unmittelbar zuvor auch nur mit einem Gefühl und einem Gedanken zu reagieren, wäre das ganz sicher keine notwendige Schwerpunktsetzung des Autors aufgrund des Themas der Szene, sondern schlicht psychologisch absurd.
Daneben kommt aber m.E. kein Autor der Welt um die Aufgabe herum, von Szene zu Szene neu zu entscheiden, welche Aspekte der Persönlichkeit einer Figur er wie stark und unter Ausschluss anderer Aspekte dieser Figur in einer bestimmten Szene zum Thema machen will. Ich denke, hier ist mehr als bei anderen Herausforderungen, die sich einem Autor stellen, psychologisches Fingerspitzengefühl gefragt. Ist es z.B. psychologisch erforderlich, in einer Szene, in der eine Figur von ihrem Chef fristlos entlassen wird, auf den heftigen Streit mit ihrem Ehepartner am Abend zuvor noch einmal gedanklich und emotional Bezug zu nehmen, oder legt man als Autor den Fokus in der Szene vollständig auf ihre Reaktion auf ihren Chef und ihre Kündigung, weil das das primäre Thema der Szene ist? Wirkt die Figur durch diese Entscheidung psychologisch unglaubwürdig, weil man erwarten würde, dass der Streit vom Vorabend noch spürbare Spuren in der nachfolgenden Situation mit ihrem Chef hinterlassen hat, die man als Autor noch einmal aufgreifen muss, um psychologische Konsistenz herzustellen, oder ist sie von den Ereignissen im Büro ihres Vorgesetzten so okkupiert, dass ihre Wut, Angst und Hilflosigkeit vom Vorabend in diesem Moment keine Rolle für sie (und den Leser) spielen?
Hier gilt es m.E. immer, eine glaubwürdige Psychologie mit der grundlegenden Konzeption und den Erfordernissen einer Szene in Übereinstimmung zu bringen und gegeneinander abzuwägen, um zum einen den Fortgang der Handlung nicht ständig zu blockieren, indem man zu intensiv auf Gedanken, Gefühle und Erlebnisse einer Figur in den Szenen zuvor Bezug nimmt, dabei aber zum anderen die konsistente Darstellung der Persönlichkeit dieser Figur nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich möchte jetzt nicht Timmy und den Autor mit Zähnen und Klauen gegen Kritik verteidigen, aber ich verstehe, glaube ich, die Schwierigkeit der Entscheidungen, vor denen er bei seiner Szenenkonzeption gestanden hat.